Gleichstellung in der Bildungs- und Berufsberatung - ­ein Begriff mit vielen „Gesichtern“ | Bildung für Erwachsene in der Steiermark

Gleichstellung in der Bildungs- und Berufsberatung – ­ein Begriff mit vielen „Gesichtern“

Juni 2025

In ihrer Masterarbeit hat sich Julia Riedel dem Gleichstellungs-Begriff in heimischen Bildungs- und Berufsberatungseinrichtungen gewidmet. Mit dem Ergebnis, dass sich kein einheitliches Verständnis von Gleichstellung zeigt, und dass in der Praxis weitaus mehr Gleichstellung gelebt wird, als es den Einrichtungen bewusst ist.

Julia Riedl @ KK

Julia Riedel hat in ihrer Masterarbeit „Gleichstellungsorientierung im Kontext der österreichischen Bildungs- und Berufsberatung“ am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Arbeitsbereich Erwachsenen- und Weiterbildung an der Universität Graz das Thema Gleichstellung in der österreichischen Bildungs- und Berufsberatung näher unter die Lupe genommen – und zwar vor dem Hintergrund der so genannten IBOBB-Zertifizierung.

Aufmerksam wurde sie auf dieses Thema im Rahmen eines ZAM-Praktikums, bei dem sie mit Angeboten in der Bildungsberatung konfrontiert war.  Riedel: „Es hat sich dabei gezeigt, dass Bildungs- und Berufswege heute nicht mehr so geradlinig verlaufen, wie das früher der Fall war. Es zeigt sich vor allem eine wachsende Individualisierung. Das macht Beratung umso wichtiger. Und diese soll natürlich möglichst qualitätsvoll geschehen – daher mein konkreter Blick auf den Teilbereich der Gleichstellungs-Orientierung.“ Die diesbezüglichen Erhebungen basierten schließlich auf den dazugehörigen Kriterien im Rahmen der Zertifizierung für das IBOBB Qualitätssiegel für Bildungs- und Berufsberatung. Dafür wurden alle drei Beteiligtengruppen einer IBOBB-Zertifizierung miteinbezogen ­– das öibf, die Einrichtungen, die zertifiziert werden, und externe Expertinnen und Experten, die so genannten Reviewenden.

Kein einheitliches Verständnis von Gleichstellung
Riedel: „Ich habe mir zunächst angesehen, was jede dieser drei Gruppen eigentlich unter Gleichstellung versteht. Dazu habe ich vertiefende Interviews geführt sowie zwei schriftliche offene Befragungen gemacht. Mit dem Ergebnis, dass sich kein einheitliches Bild gezeigt hat. Für den Gleichstellungs-Begriff war keine allgemeingültige Definition auszumachen. Das Begriffsverständnis hat von Person zu Person variiert.“ Grundsätzlich, so die Autorin der Masterarbeit, wurde Gleichstellung bei den einen als ausschließlich klassisch geschlechterspezifisch verstanden, also hinsichtlich der Mann-Frau-Thematik. Andere haben den Begriff weitaus breiter gefasst – und etwa auch Behinderung, Inklusion oder soziale Herkunft miteinbezogen.

Riedels Haupterkenntnis aus den Untersuchungen: „Es gibt einen augenscheinlichen Unterschied zwischen dem expliziten Verständnis von Gleichstellung und dem, was in Zusammenhang mit diesem Begriff im Alltag gelebt und von den ReviewerInnen bewertet wird – also dem impliziten Verständnis. Deshalb müssen bei der Qualitätssicherung Einzelfälle auch individuell eingeschätzt und bewertet werden. Und so wird bei der IBOBB-Zertifizierung auch vorgegangen, was sehr für die Zertifizierung spricht.“

Es wird mehr Gleichstellung gelebt, als bewusst ist
Was die Autorin der Masterarbeit dahingehend weiter interessiert: „Aufgrund dieser Erkenntnis wäre in einem nächsten Schritt anzuschauen, worin die Ursachen für diese Diskrepanz liegen könnten. Und zu beleuchten, ob sich das durch Weiterbildungs-Maßnahmen ändert? Zudem wäre angesichts dieser Tatsachen auch eine entsprechende Anpassung der Begrifflichkeit überlegenswert – und zwar in eine Richtung, die die Diversitäts-Dimension stärker in den Fokus rückt.“ Denn, so Riedel, zu den möglichen Auswirkungen dieser Diskrepanz: Wird der Gleichstellungs-Begriff zum Beispiel von einer Beraterin rein unter dem Geschlechter-Aspekt gesehen, engt das natürlich den Blick ein. Wichtig wäre aber vielmehr eine intersektionale Sichtweise. Denn jede Person, die zu beraten ist, ist völlig individuell.“

Riedel stellt sich dazu auch die weiterführende Frage nach Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, die zu einem intersektionalen Blick beitragen könnten. Und sie hielte es für interessant aufzuzeigen, wie bei jenen Einrichtungen, die bereits ein breitgefasstes Gleichstellungs-Verständnis leben, dieses sichtbar wird. Rein auf ihre subjektive Wahrnehmung bezogen, sieht Riedel Gleichstellung in den Einrichtungen nämlich sehr gut gelebt: „Das Verständnis für den Begriff ist zwar möglicherweise eng, aber es gibt ein deutliches Bewusstsein dafür, ihn breit zu leben. Heißt: Gleichstellung wird deutlich mehr gelebt, als es den Einrichtungen selber im Hinblick auf die Begrifflichkeit eigentlich bewusst ist. Dadurch, dass viele Gleichstellungsmaßnahmen nicht als solche erkannt und benannt werden, gehen sie leider auch unter – bleiben unsichtbare Arbeit. Und das ist schade.“

Neue Ziele und interessante Forschungsthemen
Die Erhebungen haben zudem auch einige interessante Nebenergebnisse gebracht: So äußerten manche Einrichtungen, die sich schon über Jahre immer wieder zertifizieren lassen und wo die Kriterien immer auch bestens erfüllt werden, den Wunsch, die Zertifizierung um neue Kriterien zu erweitern, um neue Ziele vorzugeben, auf die hingearbeitet werden kann – als neuen Anreiz sozusagen. Und weil man in Sachen Qualität ohnehin nie am Ziel ist. Wünsche gab es auch, was die Selbstberichte angeht, die Einrichtungen für die Zertifizierung einreichen müssen. Diese sind jedes Mal neu zu schreiben. Für die Einrichtungen wäre es einfacher und vor allem zeitsparender, würden sie bereits bestehende Textpassagen übernehmen dürfen.

Was Riedel nach ihrer Masterarbeit gerne weiterzerfolgen würde: „Allem voran die Frage nach dem Gleichstellungs-Begriff. Hier würde ich nämlich eher für einen Begriff mit mehr inhaltlicher Breite, wie etwa Gender- und Diversity-Management plädieren. Sehr interessant zu untersuchen wäre zudem, wie schon erwähnt, welche Maßnahmen dazu beitragen könnten, einen intersektionalen Blick auf den Gleichstellungs-Begriff zu bekommen – und dann sollten mögliche Auswirkungen davon unter die Lupe genommen werden.“