Möge die Übung gelingen!
Ein Plädoyer für die „digitale Aufklärung“ von Hannes Galter, Vorstandsvorsitzender Bildungsnetzwerk Steiermark: Wenn wir Künstliche Intelligenz in die Erwachsenenbildung einbauen – und daran führt kein Weg vorbei – dann muss dies auf eine transparente und reflektierte Weise geschehen …
„Künstliche Intelligenz in der Erwachsenenbildung: Lernfeld und Auftrag“ – unter diesem Titel fand am 21. Oktober 2024 der Tag der Erwachsenenbildung statt. Künstliche Intelligenz hat in unterschiedlichsten Formen unseren Alltag erreicht und ist dabei, unsere Lebens- und Arbeitswelten tiefgreifend zu verändern. Es ist keine Frage mehr, ob wir uns mit ihr auseinandersetzen, sondern lediglich, in welcher Art und Weise wir dies tun.
Nicht von ungefähr wurde heuer der Nobelpreis für Physik an John Hopfield und Geoffrey Hinton für ihre Arbeiten zum maschinellen Lernen mit künstlichen neuronalen Netzen vergeben. Parallel dazu ging auch der Nobelpreis für Chemie an Pioniere der Künstlichen Intelligenz, nämlich an die Entwickler der Software Alphafold, die benutzt wurde, um das bis dahin ungelöste Problem der Vorhersage von Proteinformen zu knacken.
Viele Forschungen im Bereich der Astronomie oder der Medizin sind heute ohne Künstliche Intelligenz nicht mehr möglich. Selbst die Erforschung der Keilschriftsprachen hat durch den Einsatz von KI einen ungeheuren Boost erfahren, wie die Electronic Babylonian Library (eBL)-Plattform der Uni München zeigt. Künstliche Intelligenz ist zu einem unersetzlichen Werkzeug bei der Analyse großer Datenmengen, bei der Strukturierung der explodierenden globalen Sekundärliteratur und bei der Erstellung effizienter Prognosemodelle geworden.
Die Österreichische Nationalbibliothek setzt sie ein, um Routinearbeiten zu erleichtern oder die Millionen Abbildungen in den digitalisierten historischen Zeitungen und Büchern maschinell zu erschließen. Dabei ist man sich des Risikos von Verzerrungen bewusst, die durch die kulturellen und gesellschaftlichen Sichtweisen der jeweiligen Entstehungszeit bedingt sind.
Mittlerweile komponiert KI wie Beethoven oder malt wie Rembrandt. Ohne eingehende Kenntnisse sind wir nicht mehr in der Lage, Gedichte von William Shakespeare oder Lord Byron von solchen zu unterscheiden, die ChatGPT 3.5 in deren Stil generiert hat. Mehr noch – wie eine Studie der University of Pittsburgh gezeigt hat, werden KI-generierte Gedichte von Lesenden tendenziell besser bewertet als von Menschen geschriebene Lyrik, weil sie einfacher und zugänglicher sind als die Werke prominenter Dichterinnen und Dichter.
Dadurch werden gesellschaftliche, rechtliche, ethische und ökonomische Fragen aufgeworfen, die noch der Beantwortung harren. Die Entwicklerfirma OpenAI plant, bis Ende des Jahrzehnts an die 100 Milliarden Dollar für das Anlernen und den Betrieb von KI-Modellen auszugeben. Wer aber entscheidet, womit eine Künstliche Intelligenz trainiert wird? Der Springer-Verlag hat sich von seinen Autorinnen und Autoren die Zustimmung dafür geben lassen, ihre Arbeiten für solche Trainings verwenden zu dürfen. Was geschieht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen von Personen, die dies verweigern? Und welche Falschinformationen, wie die des KI-Forschers Manuel Corchado, fließen in das kollektive Gedächtnis ein? „Desinformation war noch nie so einfach, günstig und skalierbar“, heißt es in der RTR-Studie „Künstliche Intelligenz in der Medienwirtschaft“.
Hier wird es einen regulatorischen Rahmen brauchen, wie er etwa mit dem „AI Act“ der Europäischen Union geschaffen werden soll. Einzelne Entscheidungen, wie die des Landgerichts Hamburg, die die Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken für das Training von Künstliche Intelligenz-Modellen für zulässig hält, lassen erkennen, wohin die Reise gehen wird. Die Begründung des Urteils hält fest, dass jedes andere Ergebnis die europäische KI-Forschung dauerhaft hinter die US-amerikanische und chinesische Forschung zurückdrängen würde.
Doch der ökologische Fußabdruck von Künstlicher Intelligenz ist sehr hoch. Das Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verursacht eine Stromrechnung von 1.500 Euro pro Stunde. Mit der benötigten Energie ließen sich 40.000 Haushalte versorgen. In den nächsten Jahren wird sich der Stromverbrauch durch den vermehrten Einsatz von Künstlicher Intelligenz noch vervierfachen.
Aber wenden wir uns der Erwachsenbildung zu. Wir haben im April dieses Jahres in der „Steirischen Erklärung“ festgehalten, dass die EB „mit neuen Entwicklungen, wie zum Beispiel Künstliche Intelligenz, nicht nur Schritt halten, sondern diese aktiv gestalten“ muss. Um dieses Ziel zu erreichen, „braucht es die Unterstützung von Leuchtturmprojekten im Bereich Digitalisierung/KI seitens der öffentlichen Hand“. Dadurch könnten neue Lernformate entwickelt, innovationsfreundliche Rahmenbedingungen geschaffen und ergebnisoffene Experimentierräume gefördert werden.
Gerade in der berufsorientierten Erwachsenenbildung ergeben sich zahllose Möglichkeiten für den Einsatz von KI-basierten Systemen. Simulationen ermöglichen Trainings und Realitychecks immer und überall, Aufgaben oder Tests können personalisiert erstellt und ausgewertet, Lernpakete und Lernziele individuell angepasst werden.
Dabei müssen wir uns allerdings immer wieder vor Augen führen, dass Künstliche Intelligenz ein Tool ist, ein Werkzeug, das uns ermöglicht, Entscheidungen effizienter zu treffen, Arbeitsabläufe zu optimieren und datenbasierte Einblicke in Verfahren zu geben. Sie ist keine Intelligenz, sondern eben eine Simulation von Intelligenz. Man darf von ihr keine originären kreativen Denkprozesse erwarten. Sie analysiert immer nur vorhandene Daten und gestaltet diese neu. Je öfter man sie mit einer Fragestellung konfrontiert, desto allgemeiner und aussageschwächer werden die Ergebnisse. Sie besitzt keine selbstreflektierende Urteilskraft und kann daher auch nicht scheitern. Das ist eine ernste Gefahr, denn bevor sie scheitert, beginnt sie zu halluzinieren. Es wird notwendig sein, dass wir uns genau überlegen, wo und wie – vor allem aber warum– wir Künstliche Intelligenz einsetzen wollen, welche Erfolge erzielt werden sollen und welche Rahmenbedingungen es dafür braucht.
Der Teaser für unseren Tag der Erwachsenenbildung „Fürchtet euch nicht, so kompliziert ist es gar nicht“ hat mir ein wenig Sorge bereitet. Er lässt den Schluss zu, dass wir uns einmal mehr in erster Linie mit dem Know how beschäftigen und zu wenig mit dem Know why.
Die benötigte Rechenleistung werden die Einrichtungen entweder zukaufen oder abonnieren müssen. Das erfordert den Einsatz von Ressourcen und ein besonderes Augenmerk auf den Datenschutz. Größere Institutionen haben hierbei entscheidende Startvorteile. Wir müssen streng darauf achten, dass sich keine Zweiklassengesellschaft in die Erwachsenenbildung einschleicht.
Aber noch entscheidender wird die Ausbildung der Lehrkräfte sein, die die notwendigen digitalen Kompetenzen erst einmal erwerben müssen, um sie danach weitergeben zu können. Denn es gilt in vermehrtem Maß, die Medienkompetenz der Bevölkerung intensiv zu fördern. Nach wie vor sind gut strukturierte Kenntnisse von Zusammenhängen notwendig, um sich in der Flut digitaler Antworten zurecht zu finden und die zu erwartende hohe Zahl an KI-generierter Desinformation zu erkennen.
Hier ist einmal mehr die Allgemeine Erwachsenenbildung gefordert. Die Schulen leisten in diesem Kontext aus unterschiedlichsten Gründen zu wenig Vorarbeit. Die internationale Vergleichsstudie „International Computer and Information Literacy Study 2023“ hat deutlich gemacht, dass die Kompetenzen für einen kompetenten, reflektierten, produktiven und kommunikativen Umgang mit digitalen Medien bei deutschen Schülerinnen und Schülern in den letzten zehn Jahren signifikant zurückgegangen sind.
Es wird notwendig sein, standardisierte Lehr- und Lernformen zu überdenken und sie differenzierten Settings anzupassen. Wissensbildung funktioniert nun einmal über vertiefte persönliche Assoziationen und emotionale Beteiligung. Nur wenn wir diese auch in den KI-gestützten Unterricht einbauen – z.B. durch soziale Austauschphasen und eigenständiges Arbeiten – werden wir Erfolge erzielen. Wenn in Zukunft Lernsoftware und Bildungstechnologien immer mehr Aufgaben der Wissensvermittlung übernehmen, wird der Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden immer wichtiger werden. Dass dabei ein neues Rollenverständnis der Vermittelnden entstehen muss – von Lehrenden als „sage on the stage“ hin zu Mentorinnen und Mentoren als „guide by the side“ – ist schon lange absehbar gewesen. Ich habe dafür 1996 die Metapher vom „Fremdenführer im globalen Dorf“ verwendet.
Heute möchte ich abschließend den Begriff der „digitalen Aufklärung“ in die Diskussion einbringen, den der Münchner Philosoph Jörg Noller für die Notwendigkeit eines autonomen und kritischen Denkens angesichts der rasanten Ausbreitung digitaler Werkzeuge und Dienste geprägt hat. Die Menschen brauchen allerdings Hilfestellungen auf dem Weg zu einer digitalen Mündigkeit. Erwachsenenbildung wird bei diesem Ermächtigungsprozess eine entscheidende Rolle spielen.
Wenn wir Künstliche Intelligenz in die Erwachsenenbildung einbauen – und daran führt kein Weg vorbei – dann muss dies auf eine transparente und reflektierte Weise geschehen. Wir müssen die zugrundeliegenden Daten und Algorithmen klar kommunizieren und Verantwortung dafür übernehmen, dass diese objektiv, unverfälscht und aktuell sind. Und wir müssen auch Denkräume zulassen, die sich nicht an Prognosen bzw. Simulationen orientieren.
Das ist keine leichte Aufgabe. Möge die Übung gelingen!
Hannes D. Galter