Erwachsenenbildung ist ein Kitt, der diese Gesellschaft zusammenhält | Bildung für Erwachsene in der Steiermark

Erwachsenenbildung ist ein Kitt, der diese Gesellschaft zusammenhält

Joachim Gruber hat im Bildungshaus Retzhof in unterschiedlichsten Bereichen Pionierarbeit geleistet und das Bildungshaus zum Thema Inklusion in der Erwachsenenbildung über die Grenzen der Steiermark und Österreichs hinaus bekannt gemacht. In der Pension geht er jetzt ganz eigene und spezielle Bildungswege.

Joachim Gruber (Foto © KK)

Sie sind seit April dieses Jahres in Pension – wie fühlt sich das an?
Sehr gut! Ich genieße jetzt die Zeit, die man plötzlich für all jene Dinge zur Verfügung hat, die man immer schon einmal machen wollte. Die Pension ist ein großartiges Zeitgeschenk.

Vor Ihrer Pensionierung waren Sie 23 Jahre lang Direktor im Bildungshaus Retzhof. Welche Bildungs- und Karrierewege haben Sie dorthin gebracht?
Ich habe Bildungs- und Erziehungswissenschaften studiert. 1984 wurde ja in Graz ein Lehrstuhl für Erwachsenenbildung eingerichtet; ich war in dieser ersten Gruppe, die hier in diesem Schwerpunkt ausgebildet wurde mit dabei. Ich habe dann auch noch Soziologie studiert – und auch hier immer wieder einen Schwerpunkt auf Bildung gesetzt. Das Thema war mir immer wichtig und hat mich auch beruflich immer begleitet.

Sie haben mit dem Retzhof ein Stück Geschichte in der steirischen Erwachsenenbildung geschrieben. Wie wirkt dieses Lebenswerk, auch wenn der Abgang erst wenige Monate her ist, rückblickend auf Sie?
Geschichte haben auch andere vor mir geschrieben und werden andere nach mir schreiben. Der Retzhof ist insgesamt ein Bildungshaus, wo viele Leute im Lauf der Jahrzehnte Bildungs- aber auch Kunst- und Kulturgeschichte geschrieben haben. Aber: Ja, es hat durchaus einige Punkte gegeben, von denen ich sagen würde, dass sie mir und meinem Team recht gut geglückt sind.

Die Barrierefreiheit zum Beispiel! Was hat Sie dahingehend motiviert und zu diesem Meilenstein, den Retzhof zur ersten umfassend barrierefreien Bildungseinrichtung des Landes zu machen, bewogen?
Eigentlich hatte ich bis dahin gar nichts mit Behindertenpädagogik zu tun gehabt. Ich habe aber immer viel nachgedacht, wie sich der Retzhof von anderen Bildungshäusern abheben könnte und was er braucht, um eine wirklich zukunftsweisende Einrichtung zu sein; es wurde also viel vorausgedacht. Und da war dann eben die Idee, die Infrastruktur des Hauses möglichst umfassend barrierefrei zu machen. Wir haben also das Pferd quasi von hinten aufgezäumt und rund drei Jahre lang intensivst die Infrastruktur angepasst. Dann kamen Schritt für Schritt die anderen Bereiche – Barrierefreiheit für Sehbehinderte, für Hörbehinderte, für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen usw. Das heißt, wir haben uns dem Thema auch programmatisch zugewandt und entsprechende Angebote kreiert und organisiert.

Wie wurde das angenommen?
Die Angebote wurden sehr rasch und sehr gut angenommen. Und der Retzhof ist für diese Initiativen rasch national wie international bekannt geworden. Im Jahr 2015 sind wir in Porto als erste Erwachsenenbildungs-Einrichtung in Europa für unser inklusives Bildungshaus mit einem internationalen Award für Barrierefreiheit ausgezeichnet worden.

Schritt für Schritt haben wir dann den Gedanken der Inklusion bis in die Retzhof-Küche weiter getragen. Wir waren Initiatoren der steirischen Auszeichnung „Grüne Küche“ die wir dann mit der steirischen Gesellschaft für Gesundheitsschutz Styria Vitalis als erstes am Retzhof umgesetzt haben. Dabei ging es vorwiegend um den Bio-Anteil bei den angebotenen oder verkochten Nahrungsmitteln und um gesundheitliche Aspekte bei der Speisenzubereitung. Umfassende Inklusion bedeutete für uns aber in diesem Zusammenhang, auch diverse kulturelle oder religiöse Aspekte beim Essen und Trinken unserer Gäste mit zu berücksichtigen.

Sie haben auch mit Ihren grenzüberschreitenden Projekten Pionierarbeit geleistet. Woher dieser Pioniergeist?
>Wie gesagt: Es war zum einen die Suche nach Alleinstellungsmerkmalen für den Retzhof und die große Leidenschaft des gesamten pädagogischen Teams für eine solche Ausrichtung. Das hat uns zu dieser internationalen Öffnung, die zunächst hauptsächlich Richtung Slowenien gegangen ist, bewogen. Da hat aber auch sehr viel meine Kollegin, Polonca Kosi Klemensak, MA, dazu beigetragen, die als slowenische native speakerin viele Verbindungen erst möglich gemacht hat. Idee und Wunsch waren da, dank ihrer Kompetenz ist uns dann auch die Umsetzung rasch gelungen. Internationale Öffnung gab es aber beispielsweise auch in der Durchführung oder Teilnahme von zahlreichen Projekten im Programm „Erasmus +“ innerhalb der EU.

Visionäre laufen sprichwörtlich oftmals lange gegen die Wand – wie sind Sie da mit Ihren Vorreiter-Projekten durchgekommen?
Wir haben das alles ganz einfach gemacht! Als Direktor hat man ja einen gewissen Spielraum und wir hatten immer das Gefühl, damit eine gute Bildungsarbeit für unseren Träger, das Land Steiermark, zu leisten. Wir haben uns immer wieder auch an den aktuellen gesellschaftlichen Notwendigkeiten orientiert – und manche davon auch vorausgedacht. Das zeichnet den Retzhof generell aus. Deshalb hat man den Retzhof und seine Bildungs- und Kulturarbeit ja auch immer wieder gerne hergezeigt, wenn etwa internationale Gruppen zu Gast in der Steiermark waren.

Welche Stellung nimmt der Retzhof heute innerhalb der steirischen aber auch österreichischen Erwachsenenbildungs-Landschaft ein?
Der Retzhof hat als Bildungshaus österreichweit einen sehr guten Ruf und eine beachtliche Tradition in der Bildungs- und Kulturarbeit. Der Retzhof hat sich im Lauf der Jahrzehnte seines Bestehens zu einem einzigartigen Fixpunkt entwickelt – hier war der steirische Autor und Dramatiker Wolfi Bauer einst genauso „zuhause“ wie später die Gruppe STS. Der internationale Star in der Bildenden Kunst, Erwin Wurm, hat am Retzhof unterrichtet. Der bis heute legendäre Psychoanalytiker Erwin Ringel hat hier Vorträge gehalten. Der ehemalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl hat seine Klausuren als Jugendfunktionär abgehalten. Hier war durch Markus Jaroschka beispielsweise auch der Geburtsort der bis heute bestehenden und auch international renommierten Literaturzeitschrift „Lichtungen“.

Kurz und gut: Unzählige bedeutende Persönlichkeiten aus unterschiedlichsten Sparten haben am Retzhof Vorträge, Seminare, Workshops und Lesungen abgehalten und ihre Werke in Ausstellungen präsentiert. Das hat tatsächlich eine bemerkenswerte Tradition in Österreich begründet. Und es bleibt zu hoffen, dass diese Tradition weitergeführt wird. Denn es braucht zweifelsohne Einrichtungen wie den Retzhof – weil es trotz aller Digitalisierung nämlich mehr denn je auch die „Verortung“ von Bildungs- und Kulturarbeit braucht. Es lässt sich nicht alles im Netz leisten. Bildung braucht Verortung und das wird auch in Zukunft so sein.

Was zeichnet ein Bildungshaus wie den Retzhof gegenüber modernen Seminarhotels oder Konferenzzentren aus?
Mein Zugang für den Retzhof war es immer, so gut wie fast alles möglich zu machen – für die Veranstalter und auch für die Teilnehmer. Ein Bildungshaus sollte auch ein wenig anarchisch sein, da soll viel und vieles möglich sein, was anderswo, etwa in einem Seminarhotel, nicht ist. Es braucht spezielle Orte in denen möglich ist, was ist in einem herausgeputzten Konferenzzentrum oder Seminarhotel nun einmal nicht möglich ist. Gerade das macht den Charme der Bildungshäuser – und speziell des Retzhofs – aus.

Was braucht Ihrer Ansicht nach die Erwachsenenbildung für einen guten Weg in die Zukunft am dringendsten?
Endlich einmal mehr Aufmerksamkeit von PolitikerInnen für diese Bildungsschiene! Da wird in Österreich nach wie vor nicht verstanden, dass die Erwachsenenbildung die längste formale Bildungsphase des Menschen ist – wenn er sie in Anspruch nimmt. In nordischen Ländern hat man das beispielsweise längst erkannt und legt dementsprechend viel Wert auf diesen Bildungszweig. In Österreich erscheint mir der Stellenwert der Erwachsenenbildung im offiziellen und veröffentlichten Bildungsdiskurs eher wie eine Art „Untergrundbewegung“.

Was ist ganz generell Ihr Wunsch für die steirische Erwachsenenbildung?
Dass sie wirksame Formate und Methoden schafft, die das gesellschaftliche, tolerante, demokratische Zusammenleben unterstützen und fördern. Und dass in der beruflichen Aus- und Weiterbildung längst bekannte und erprobte Methoden der Erwachsenenbildung stärker Einfluss und Anwendung finden ­- da geht es noch immer sehr schulisch zu. Lebenswelten und Erfahrungen erwachsener Menschen müssen viel stärker in den Unterricht miteinbezogen und beachtet werden. Stichwort: Teilnehmerorientierung!

Im Sinne des lebenslangen Lernens: Was wird jetzt in der Pension Ihre erste Weiterbildungsmaßnahme sein?
Ich möchte gerne und werde sehr viel mehr reisen und mir Zeit für die „kleinen Dinge und Attraktionen“ des Lebens nehmen, die man sonst oft gerne übersehen hat oder liegen hat lassen. Ich möchte meinen Blick mehr auf Kleines, auf den ersten Blick scheinbar Unbedeutendes, das einen dann oftmals umso mehr erstaunen lässt, lenken.

Bildung wirkt … wenn sie die Lebenswirklichkeit des Menschen berührt.

Weiterführende Informationen

Im Weiterbildungsnavi Steiermark finden Sie tausende Bildungsangebote zu unterschiedlichen Themen. Es ist bestimmt auch etwas für Sie dabei! Hier finden Sie auch Informationen zu den Angeboten im Bildungshaus Schloss Retzhof.

Und wenn Sie noch nicht ganz wissen, welche Chancen es für Sie im Bildungskontext gibt: Information und Beratung zu allen Fragen der Aus- und Weiterbildung für Erwachsene erhalten Sie im Bildungsnetzwerk Steiermark anbieterneutral und kostenlos:

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