Philipp Blom zu seinem neuen Buch „Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung“
„Wir stehen vor der größten intellektuellen Revolution der Menschheit!“ Mit Aussagen wie diesen hat Philipp Blom, Philosoph und Historiker, beim „Tag der Weiterbildung 2023“ im Bildungshaus Schloss Retzhof aufhorchen lassen und nachhaltige Denkprozesse angeregt. Nun führte das Bildungsnetzwerk Steiermark mit dem Bestsellerautor ein exklusives Gespräch zu seinem neusten Buch.
Was war Ihre Motivation genau dieses Buch zu schreiben?
In diesem Fall war es der Verlag, der an mich herangetreten ist. Es ist ein kurzes Buch und das soll auch genauso sein, denn ich möchte vor allem mit jungen Menschen sprechen, die sehr engagiert sind, aber einfach keine Bücher lesen. Und so ist es als Experiment entstanden: Ein Buch, das jeder auf seine Weise lesen kann. Es ist in sechs sehr kurze Kapitel geteilt, die für sich gelesen werden können. Wer aber neugierig ist, der findet analoge „Hyperlinks zum Blättern“, die zu kleinen Essays mit einem Mehr an Informationen und Komplexität führen.
Und wohin führt uns der Inhalt des Buches?
Inhaltlich ist es eine Hommage an die Offenheit des Denkens. Was ich anbiete, ist eine Art Landkarte, die ich von der Welt meiner Erfahrungen und meines Verstehens gezeichnet habe und immer noch zeichne. Landkarten funktionieren aber nur, wenn sie die Welt nicht genau so darstellen, wie sie ist, sondern sie vereinfachen. Wir brauchen Vereinfachung, um navigieren zu können. Jede Landkarte zeigt bestimmte Ziele auf und Wege, die dorthin führen. Was der Kartograf nicht wichtig findet, kann mit seiner Karte aber auch nicht gefunden werden. Und die ökonomischen und ideologischen, politisch abgesegneten Karten der letzten Jahrzehnte bieten keinen realistischen Weg, um sinnvolle Ziele zu erreichen.
Wir brauchen also eine neue Landkarte?
Ja, wir brauchen neue Karten. Ich traue es aber keinem einzigen Menschen zu, diese EINE Karte zu zeichnen und sie als „wissender Professor“ allen zu geben, damit sie wissen, was sie denken sollen. Es ist daher wichtiger denn je, selbst neue Landkarten zu zeichnen und sich zu fragen, welche Ziele es wert sind, erreicht zu werden und welches Wissen dafür notwendig ist.
Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung: Was verrät der Titel über den Inhalt?
Wir bewegen uns in einer Welt, die von Illusionen geprägt wird. Als Beispiel: Die hell erleuchteten Supermärkte verdunkeln die Realität der Produkte, die uns verkauft werden sollen. Es sind geschwätzige Orte, ein Idyll mit lila Kühen und glücklichen Schweinchen, Markenprodukten … der gesellschaftliche Druck geht dahin, uns zu glücklichen, faulen Verbrauchern zu machen, uns zu infantilisieren. Sehen Sie, ich spiele zum Beispiel gerne Geige, ich bin ein mittelmäßiger Geiger. Wenn ich mir jetzt eine Stradivari kaufe, bin ich nur ein mittelmäßiger Geiger mit Stradivari. Will ich mein Spiel verbessern, hilft kein Konsum, nur Disziplin und üben. Konsum ist zutiefst religiös geworden, die Requisiten sind heute neue und wir unterliegen, auch aufgrund der zunehmenden Macht der Sozialen Medien, vermehrt Manipulationen.
Gibt es so etwas, wie einen roten Faden, der durch das Buch führt?
Es ist entlang der Leitbegriffe der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – geschrieben, denn wir brauchen heute eine neue, eine erste richtige Aufklärung. Dafür sind die alten Leitbegriffe aber neu zu definieren. Unbegrenzte Freiheit ist Blödsinn, es ist ein leeres Wort. Freiheit kann heute besser mit Autonomie übersetzt werden. Autonomie bedeutet, in der Lage zu sein, selbständige Entscheidungen zu treffen und damit die eigenen Grenzen permanent selbst zu wählen.
Menschen sind auch nicht gleich. Sie waren es nie. Unsere Diktionen und Informationen beziehen wir heute nicht mehr vom Adel oder aus Kirchenfresken, sondern digital aus Social Media. Auch heute entscheidet wieder eine kleine Zahl an Menschen, die so gut wie keine Steuern zahlt und Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt, was wir sehen, wissen und wie wir uns verhalten sollen. Wie Yanis Varoufakis sagt, sind wir im Techno-Feudalismus angekommen. Ein Techno-Feudalismus als neue Aristrokratie könnte das Ende der Demokratie bedeuten.
Menschen sind auch nicht Gottes einzige und beste Schöpfung – wir sind eine Spezies unter vielen. Wir Menschen haben uns zu sehr von der Natur entfernt, uns über sie gestellt. Wir müssen uns wieder stärker hin zur Natur bewegen, ein Teil von ihr sein und uns nicht über sie oder außerhalb von ihr begreifen. Ich meine damit, dass es dringend erforderlich ist, die Brüderlichkeit – heute besser: die Solidarität – auf Tiere, Pflanzen, auf die Ökosysteme auszudehnen. Ich fände es schön, wenn wir an den Entwicklungen zur Erneuerung der Systeme noch teilhaben könnten, daher ist es unser aller Aufgabe, gemeinsam Zukunft zu schaffen – aufgeklärtes Denken und Handeln bekommen dahingehend Überlebensstatus.
Sie sagten in Ihrer Keynote am Tag der Weiterbildung, dass zur notwendigen Änderung der Systeme nicht 51%, sondern nur die richtigen 15% der Menschen notwendig sei. Zählen Sie sich selbst zu diesen 15%?
Ja, in gewisser Weise schon. Ich kann durch meinen Beruf sehr viele Menschen erreichen. Sehen Sie, nicht nur ein kleines, autistisches Mädchen aus Schweden kann weltweit viele Menschen erreichen, jeder von uns ist dazu in der Lage und einige Entwicklungen geben schon Hoffnung: War es vor 10 Jahren noch besonders cool, auf Kreuzfahrt zu gehen, so finden das heute nicht mehr so viele Menschen so toll. Vielleicht heißt es in 10 Jahren: Eine Kreuzfahrt? Echt jetzt? Aber Sie alle in der Erwachsenenbildung zählen zu den 15 Prozent. Aufgeklärtes Denken und Handeln ist ein Bildungsprojekt!
Bildung wirkt … Bildung kann wirken, wenn man sich als erwachsenes Individuum ernst nimmt. Bildung heißt, sich im lebensbegleitenden Lernen einen eigenen Schatz aufzubauen, zu lernen diszipliniert zu handeln und systematisch zu denken.
Fazit und absolute Leseempfehlung
Philipp Blom:
Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung.
Aus der Reihe AUF DEM PUNKT, Brandstätter 2023.
ISBN: 978-3-7106-0737-0
Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung – Brandstätter Verlag (brandstaetterverlag.com)
Blom kündigt in diesem zukunftsweisenden Werk die größte intellektuelle Revolution der Menschheit an und sieht die Zeit für die wahre, radikale Aufklärung gekommen. Bildung nennt er als Grundlage dafür, die damit verbundenen Herausforderungen meistern zu können. Die Erwachsenenbildung bezeichnet der Autor als zentrales Instrument, um den gesellschaftlichen Wandel gut meistern zu können und niemanden auf dieser Reise zurückzulassen. Allem voran müssten wir lernen, gute, neue Geschichten zu erzählen – ein großer Auftrag für die Erwachsenenbildung und jede/n einzelne/n von uns. Und sich in Bloms Buch zu vertiefen, ist bestimmt auch ein motivierender Start in eine neue Zukunft.