Wollen wir nicht alle frei(er) sein?
Ein Gespräch mit Marcella Rowek (Frauenservice Graz) über die Enge tradierter Rollenbilder und aktuelle Herausforderungen auf dem Weg in Richtung Gleichstellung.
Marcella Rowek leitet das Referat für Bildung und Öffentlichkeitsarbeit im Frauenservice Graz. Sie engagiert sich seit vielen Jahren leidenschaftlich für eine sozial gerechte, inklusive Gesellschaft und war während und nach ihrer Ausbildung (Pädagogik, Politikwissenschaft und internationale Friedens- und Konfliktarbeit) in unterschiedlichen Projekten im Bereich der politischen Bildungsarbeit, Friedenspädagogik und in der Wissenschaft tätig.
Bildung wird in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen generell eine große Rolle zugeschrieben. Ist das auch im Bereich der Gleichstellung so?
Absolut. Es braucht gute politische Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit – eingebettet in die konkreten Alltagssituationen von Menschen – und die Veränderung gesellschaftspolitischer Strukturen. Diese Ebenen bedingen sich gegenseitig und müssen beide bespielt werden. Nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen sind nach meinem Verständnis ein interdependentes Wechselspiel aus Bottom-up- und Top-down-Ansätzen.
Wo sehen Sie aktuell den größten Handlungsbedarf auf dem Weg zu Gleichstellung?
Die Bedeutung von Bildung zur Verwirklichung von Gleichstellung und Chancengleichheit aller Menschen unabhängig ihres Geschlechts wird auch durch die Umfrage im Rahmen der Erarbeitung des Aktionsplans 2021–2022 zur Umsetzung der steirischen Gleichstellungsstrategie deutlich. Auf die Frage, in welchen Bereichen der größte Handlungsbedarf bestünde, wurden folgende drei am häufigsten genannt: Einkommen/Gehalt (66,5 % der Befragten), Vereinbarkeit von Familie/Beruf/Pflege (56,4 %) und finanzielle Unabhängigkeit/Altersvorsorge/soziale Absicherung (45,7 %). Interessanterweise fiel die Gewichtung der Themen bei Personen je nach Höhe des Bildungsgrads verschieden aus. Personen mit höherem Bildungsgrad benannten mehrheitlich den „Abbau geschlechtsspezifischer Rollenbilder“ als dringliches Handlungsfeld und weniger häufig die oben genannten Bereiche. Das macht deutlich, wie wichtig Bildung für das Erkennen gesellschaftlicher Zusammenhänge ist. Hier konkret für den Zusammenhang zwischen geschlechtsspezifischen Rollenbildern und den realpolitisch spürbaren alltagsrelevanten Konsequenzen in eben den Handlungsfeldern: Einkommen/Gehalt, Vereinbarkeit von Familie/Beruf/Pflege und finanzielle Unabhängigkeit/Altersvorsorge/soziale Absicherung.
Diese engen geschlechtsspezifischen Rollenbilder knüpfen sich an die Entwicklung und Aufrechterhaltung von bestimmten Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen, die sich wiederum in gesellschaftlichen Ungleichheits-Strukturen manifestieren und eben diese Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen reproduzieren. Nachhaltige Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsarbeit das Geschlecht und auch andere Ungleichheitskategorien betreffend – Herkunft, Alter, körperliche und psychische Verfassung seien beispielhaft genannt – benötigen daher, wie vorher bereits angesprochen, ein Wirken auf beiden Ebenen: (Bewusstseins-)Bildung und die daran geknüpfte Änderung von Einstellungen und Verhalten sowie strukturelle Veränderungen.
Im Rahmen seiner feministischen Bildungs- und Beratungspraxis ist eine wesentliche Aufgabe des Frauenservice, einen Beitrag zur Erweiterung der als weiblich und männlich konnotierten Rollenbilder und daran geknüpfte Selbstverständnisse zu leisten.
Das heißt aber, dass aktuell patriarchale Rollenbilder immer noch sehr wirksam sind?
Ja, das sind sie. Das sehen wir z.B. deutlich an individueller und struktureller Gewalt, die Frauen erfahren. Auf der Ebene individueller Gewalt lässt sich anführen, dass es in Österreich dieses Jahr bereits 27 Femizide (Stand 24.11.) gegeben hat – damit liegt Österreich im EU-Vergleich deutlich über dem traurigen Durchschnitt bei Frauenmorden. In Österreich ist jede fünfte Frau – also 20 Prozent der Frauen – ab ihrem 15. Lebensjahr körperlicher und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Auch andere Formen von Gewalt – wie z.B. psychische, wie bspw. Verbote, Beschimpfungen, Drohungen etc., seien hier erwähnt, denn sie finden zu selten Eingang in die mediale Berichterstattung. Das wäre allerdings wichtig, um das öffentliche Bewusstsein dafür zu schärfen, wo Gewalt bereits beginnt und welche Alarmsignale häufig Vorboten von Gewalt sind.
Frauen sind darüber hinaus mit eklatanten strukturellen Ungleichheiten, wie z.B. ökonomischer Benachteiligung, konfrontiert. Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen für gleichwertige Arbeit (gender pay gap, in Österreich 2020 bei ca. 20 %) und die daraus folgende „Pensionsschere“ (pension pay gap, in Österreich 2020 bei ca. 40 %) sowie Ungleichheiten in der sozialen Absicherung. Zudem sind es auch weiterhin hauptsächlich Frauen, welche die unbezahlte Sorgearbeit, wie z.B. Kinderbetreuung und Pflege, übernehmen und insbesondere Frauen mit Migrationserfahrung und /oder benachteiligenden sozio-ökonomischen Hintergründen, welche die schlecht bezahlte, prekäre Sorgearbeit verrichten. Diese Missstände haben sich im Zuge der Coronakrise verstärkt gezeigt.
Welche Vorteile bringt Gleichstellung generell und für die Gesamtgesellschaft?
Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene äußert sich mehr Gleichstellung beispielsweise in höherem sozialen Vertrauen, einem friedlicheren Zusammenleben und höherer Lebenszufriedenheit; in Arbeitsteams in besserer Gesundheit, höherer Leistung sowie Innovation und in heterosexuellen Liebesbeziehungen in höherer Beziehungszufriedenheit und glücklicheren, stabileren Beziehungen. Gleichstellung und gleichberechtigte Teilhabe stärken das soziale Gefüge einer Gesellschaft und sind die Grundlage dafür, dass sich das in ihr schlummernde Potential entfalten kann – auf individueller wie auf kollektiver Ebene.
Welche Ziele verfolgt das Frauenservice Graz in diesem Kontext mit seinen Angeboten?
Das Frauenservice hat das Ziel, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit zu fördern. Wir setzen uns besonders für die Verbesserung der Situation von Frauen in psychischen und sozialen Notlagen und für die Gleichstellung aller Menschen unabhängig ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Alters, ihres sozio-ökonomischen Hintergrunds und ihrer körperlichen wie psychischen Verfassung ein. Kurzum, wir engagieren uns für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Als Einrichtung der Erwachsenenbildung möchten wir Lern- und Dialogorte schaffen, die an Vielfalt orientiert sind und in denen Auseinandersetzungen undogmatisch geführt werden können. Wir fokussieren im Frauenservice auf zwei zentrale Aufgaben: Frauenberatung und geschlechterpolitische Erwachsenenbildung.
Das Frauenservice Graz hat über Jahrzehnte praxisrelevante Expertise zu den Themen Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung sammeln können, die über die Angebote der Erwachsenenbildung und Öffentlichkeitsarbeit an eben dieser Schnittstelle von Bottom-up- und Top-down-Ansätzen zur Realisierung einer geschlechtergerechten Gesellschaft wirken können. Das macht unsere Arbeit sehr spannend und gibt uns das Gefühl, einen sinnvollen Beitrag zur Umsetzung einer inspirierenden Vision leisten zu können.
Zur eingangs erwähnten Gleichstellungsstrategie des Landes Steiermark: Eine gute Strategie als Basis für die Bildungsarbeit?
Die Strategie ist ein wichtiges Zeichen und das Land Steiermark nimmt mit ihrer Umsetzung eine Vorbildfunktion ein. Die Aktionspläne zur Umsetzung können durch das Setzen realistischer Meilensteine Frustrationserfahrungen entgegenwirken, die immer mal wieder auftreten können, wenn Entwicklungen in Richtung mehr Gleichstellung sehr lange brauchen, um sich zu etablieren. Das Definieren von Zwischenzielen und deren Erreichen führt uns vor Augen, was sich schon in eine positive Richtung verändert hat. Erfolge zu erkennen und auch zu feiern ist wichtig für das Aufrechterhalten eines nachhaltigen, lustvollen Engagements.
Wichtig ist es mir aber auch zu erwähnen, dass das Thema des 3. Geschlechts zwar in der steirischen Gleichstellungsstrategie und dem dazugehörigen Aktionsplan 2021–2022 erwähnt wird, aber in den formulierten Maßnahmen, meines Wissens nach, noch keinen Niederschlag findet. Die Lebensrealitäten und Bedürfnisse von Menschen, die sich weder als männlich noch als weiblich identifizieren, sollten in den zukünftigen Aktionsplänen ebenfalls Berücksichtigung finden, um den Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit weiterzuverfolgen.
Wie wenig letztlich Wahrnehmungs-, Denk-, Verhaltens-, Liebes- und Lebensweisen mit dem einem Menschen zugeschriebenen biologischen und sozialen Geschlecht zu tun haben können, bringt Autorin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, Carolin Emcke, in ihrem Buch „Wie wir begehren“ treffend auf den Punkt. Dort beschreibt sie, wie sie sich in Jugendjahren meist mit männlichen Filmhelden identifizierte, weil diesen – und nicht Frauen – die aktiven, handelnden Rollen gegeben wurden und endet mit dem Satz: „Nie wollte ich ein Mann sein, ich wollte einfach nur frei sein.“ Und hier landen wir wieder bei unserem Ausgangspunkt: der Wichtigkeit erweiterter Rollen- und Selbstverständnisse, die über die engen Grenzen tradierter geschlechtsspezifischer Rollenbilder hinausgehen. Denn wollen wir nicht alle frei(er) sein?
Nachhaltige gesellschaftliche Veränderung braucht ein vielfältiges Tun auf diesen unterschiedlichen Wirkebenen. Ist Vernetzung und Koordination ein Schlüssel zum Erfolg?
In der Erwachsenenbildung ist Koordination und Vernetzung wichtig, da auf diese Weise Angebote pointiert gestaltet, Synergien erschlossen und Weiterentwicklungsbedarf aufgedeckt und angegangen werden kann. In einem Geflecht von engagierten, fähigen und kreativen Menschen können sich die Ideen, Ausdauer und Umsetzungskraft entfalten, die positive gesellschaftliche Transformation hin zur Verwirklichung eines guten Lebens für alle Menschen – wie es die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zeichnen – ermöglicht. An dieser Stelle auch ein herzliches Danke an das Bildungsnetzwerk Steiermark fürs Zusammenführen und -halten.
Vielen Dank Marcella Rowek!
Anschließend noch zwei Hinweise: Das Frauenservice Graz vermittelt Expertinnen und Experten für Vorträge, Workshops, Weiterbildungen für Teams, in Betrieben, für Inputs bei Tagungen, Lehrveranstaltungen oder als Diskutantinnen und Expertinnen bei Podiumsdiskussionen. Marcella Rowek erreichen Sie für Rück- und Anfragen unter marcella.rowek@frauenservice.at.
Und noch ein Hinweis: Wir im Bildungsnetzwerk Steiermark legen in jeglicher Kommunikation Wert auf geschlechtergerechte Sprache. Allerdings verzichten wir in der schriftlichen Kommunikation auf Sonderzeichen im Text. Das Frauenservice Graz hätte gerne das Gender-Sternchen verwendet, um Menschen aller Geschlechter anzusprechen und miteinzubeziehen. Eine dadurch intern angestoßene Diskussion zu aktueller geschlechtergerechten Sprache nehmen wir sehr gerne auf und wollen sie auch offen im Netzwerk fortführen. Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen und Anregungen hierzu!
Weiterführende Informationen im Kontext:
Gleichstellungsstrategie des Landes Steiermark >
Aktionsplan zur Umsetzung der Gleichstellungsstrategie 2021–2022 >
Aktuelle Bildungsangebote zu Gleichstellung in der Steiermark >
Frauenservice Graz >