Bildung in Zeiten von Corona
Hannes Galter (Vorstandsvorsitzender Bildungsnetzwerk Steiermark): „Die Vorteile der Fernlehre scheinen offensichtlich – die Praxis sieht leider nicht ganz so rosig aus.“
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„Die Zukunft des Lernens ist digital und vernetzt“ lautete kürzlich die Überschrift der Aussendung einer deutschen Hochschule. In der Folge wurden die Vorteile von E-Learning aufgezählt und die COVID-19 Pandemie als Chance für Digitalisierung und Vernetzung bezeichnet.
Die Vorteile der Fernlehre scheinen offensichtlich: die Zeit- und Ortsunabhängigkeit der Lernprozesse, das individuelle Lerntempo und die persönliche Lernzeitgestaltung, die Kombinierbarkeit unterschiedlicher Vermittlungsformen (Medienmix) und das damit verbundene Ansprechen unterschiedlicher Sinne, die Möglichkeiten interaktiver Unterrichtsgestaltung und die Individualisierung der Vermittlung, die Wiederverwendbarkeit erstellter Lernmaterialien. Einmal erstellte Inhalte können leicht immer wieder verwendet und aktualisiert werden. Auch die Motivation der Lernenden und die allgemeine Effizienz der Bildung würden eine Steigerung erfahren.
Die Praxis sieht leider nicht ganz so rosig aus. Ich möchte hier einige Erfahrungen aus acht Monaten universitärer Fernlehre im Vorlesungsbereich (30-70 Studierende) und im altsprachlichen Unterricht (Anfänger und Fortgeschrittene) sowie Fernforschung im Bereich internationaler Projekte weitergeben, da ich glaube, dass diese Erfahrungen auch bei der Implementierung von E-Learning in der Erwachsenenbildung von Nutzen ein können.
Die Universität Graz startete im Sommer eine Umfrage bei den Lehrenden nach ihren Problemen im abgelaufenen Semester. Diese ergab, dass die häufigsten Probleme technischer Natur waren (Hardwareprobleme, Softwareinkompatibilität, instabile Internetverbindungen etc.) und dass die Fernlehre einen erhöhten Arbeitsaufwand bei der Erstellung der Lernmaterialien und bei der Durchführung von Lehre und Prüfungen bedeutete. Die Hälfte der Befragten, mich eingeschlossen, wollten im Herbst überwiegend in Präsenz und zu einem geringen Anteil digital lehren. Trotz anfänglicher Hoffnungsschimmer kam es anders. Im Herbst kam es erneut zum Umstieg auf Fernlehre.
Parallel zur Umfrage hatte die Universität Graz über den Sommer die Möglichkeiten digitaler Lehre stark erweitert und ausgebaut. So stehen derzeit neben Moodle unterschiedliche Webinar-Tools sowie Streaming-Möglichkeiten zur Verfügung. Dazu finden sich Anleitungen für die Erstellung von multimedialen Powerpoint-Präsentationen (mit Videos, Tonspur und Animationen), Lernvideos, Videointerviews, Podcasts, Lern-Apps, Webinaren, MOOCs, etc. im Intranet. Darüber hinaus gibt es eine Plattform zum Ideenaustausch und es werden regelmäßig Anwendungsbeispiele und digitale Tipps zur Gestaltung und Abhaltung von Fernlehre veröffentlicht.
Die pädagogischen Tipps umfassen Hinweise auf Anzahl und Umfang von Lernportionen. Um der Aufmerksamkeitspanne gerecht zu werden, sollten Lerninhalte in kleinen Happen von nicht mehr als 30 Minuten Länge verabreicht werden (Micro-Learning). Der Unterhaltungsfaktor könne durch Wikis, Lernspiele, Rätselaufgaben oder Comics gesteigert werden (Edutainment). Da herkömmliche Unterrichtsformen – nach Aussage des Gamification-Gurus Konstantin Migutsch – von Jugendlichen als museal und wenig motivationsfördernd empfunden werden, müsse man spielerische und dem Lebensgefühl der Jugendlichen angepasste Vermittlungsformen finden.
Dies bedeutet natürlich, dass die Hauptlast der Umstellung auf digitale Lehre bei den Lehrenden liegt. Daran führt kein Weg vorbei, und das muss auch allen klar sein. Mit der Bereitstellung von Bandbreiten, Tools und Schulungen ist es nicht getan. Die Lehrenden müssen ganz neu anfangen und ihre Studierenden ohne den unmittelbaren Einsatz der authentischen Persönlichkeit und der fachlichen Begeisterung zur Teilnahme motivieren.
Bei der Erstellung geeigneter Lernunterlagen kommt es zu einem deutlich spürbaren Mehraufwand an Zeit und Ressourcen. Sie müssen fachlich, sprachlich und urheberrechtlich korrekt sein. Ins Netz stellen ist lediglich eine andere Form von publizieren. Im Netz kursieren genug inoffizielle Skripten und Unterlagen; die unvollständig, missverständlich oder schlichtweg falsch sind. Youtube-Videos sind gefragt und rasch gefunden. Sie entsprechen oft nicht den akademischen Ansprüchen, vor allem in den historischen aber auch in vielen naturwissenschaftlichen Fächern – überall dort, wo es auf Kenntnisse und Wissen und weniger auf Kompetenzen ankommt. Powerpoint-Präsentationen mit Audiokommentaren stellen einen oft vor urheberrechtliche Probleme, da dabei (im Gegensatz zu PDFs) das eigene wie fremde Bildmaterial frei wiederverwendbar wird. Selbsterstellte Videoaufzeichnungen von Lehrveranstaltungen stoßen bei 45-50 Minuten Länge schnell auf Downloadgrenzen bei den Lernenden.
Damit sind wir bei den wesentlichen Herausforderungen. Als Lehrender muss man mit den Gegebenheiten völlig unterschiedlicher Hardware (Laptops, Tablets, Handys, alte Stand-PCs ohne Kamera und Mikro), unterschiedlicher Internetgeschwindigkeiten und unterschiedlicher Kommunikationssysteme am selben Gerät (Unimeet, Zoom, Google Meets, Webex, Skype), die einander oft behindern, zu Rande kommen. Dazu kommen unruhige Lernumgebungen, instabile Internetverbindungen, die oft Bild und Ton nicht gleichzeitig erlauben, und Probleme der Datensicherheit (z.B. bei Zoom). Der Support funktioniert am Campus in der Regel ausgezeichnet, im Home-Office mit oder ohne VPN ist man meist auf sich selbst gestellt.
Eine interaktive Unterrichtsgestaltung hängt zu großen Teilen vom Unterrichtsgegenstand und von der Zahl der Lernenden ab. Im Vorlesungsbereich ist eine Motivation zu Interaktivität äußerst aufwändig, da sich sehr schnell laissez faire-Phänomene einstellen. Eine hohe Einstiegsmotivation weicht relativ schnell digitaler Ermüdung. Angebote zum Erfahrungsaustausch via Videokonferenz oder E-Mail werden dann nur mehr sporadisch in Anspruch genommen. Vorlesungen werden (wie auch im Hörsaal) in erster Linie konsumiert. Dort, wo Interaktivität eingefordert wurde, z.B. im Sprachunterricht, fand sie auch statt, musste aber stetig durch Angebote und Aufgaben am Leben gehalten werden.
Auch bei Streaming-Angeboten stiegen viele per Smartphone und ohne Bild und Ton ein, was es auch für mich als Referenten schwer machte, angesichts eines Waldes anonymer Silhouetten am Bildschirm die gleiche Begeisterung für den Vortrag wie im Hörsaal aufzubringen. Anschließende Diskussionen und Fragen waren deutlich begrenzter als im Präsenzmodus. Das hat vermutlich auch damit zu tun, dass sich der Chat über das Smartphone schwieriger gestaltet als am Laptop. Ein kurzer Ausflug in den Bereich der hybriden Lehre zeigte sehr rasch unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten der einzelnen Gruppen.
Die von Konrad Paul Ließmann angesprochene Infantilisierung der universitären Bildung wurde durch die oben angeführten Tipps für die Fernlehre wiederum deutlich. Dabei bedarf es der erwähnten Zeitvorgaben, Stoffbeschränkungen und Zusatzangebote nicht, wenn der Unterricht durch Vortrag, Bild- und Videomaterial spannend und abwechslungsreich gestaltet wird und wenn er die Lebenssituationen der Studierenden mit einbezieht. Der größte Ehrgeiz beim Übersetzen altsprachlicher Texte entwickelte sich bei (unhistorischen!) Alltagsbeispielen wie Flirt-Dialogen, Mustersätzen für „Wie bestelle ich ein Bier auf Babylonisch?“ oder T-Shirt-Aufschriften wie „Natürlich spreche ich Sumerisch! Kann das nicht jeder?“
Das, was wirklich fehlt, ist der persönliche Kontakt zu den Studierenden. Blickkontakte, Persönlichkeit, Emotionalität, Körpersprache, all das, was ein Band zwischen Lehrenden und Lernenden bildet, lässt sich über das Internet nicht transportieren. Eine Studentin meinte, bei all dem Aufwand an digitalen Materialien fehle ihr die persönliche Erklärung und der individuelle Zugang der Lehrperson.
Den größten Erfolg hatte auch eine Strukturierung der Lehrveranstaltungen, die an Präsenzlehre erinnerte: immer zur gleichen Zeit, auch beim Hochladen von Inhalten (Skripten, Power-Points, Videos etc.), und mit gleicher Dauer sowie ein regelmäßiger Kontakt mit den Studierenden durch Aufgaben mit Deadlines, Motivations-E-Mails und virtuellen Sprechstunden. All das bedeutet aber einen zeitlichen und administrativen Mehraufwand von etwa 50%. Trotzdem muss man damit rechnen, dass etwa die Hälfte der Studierenden nicht bei der Stange bleibt bzw. sich erst kurz vor Klausuren, Prüfungen oder Tests mit den Inhalten beschäftigt. Das bleibt als Herausforderung.
In seinem 1999 gedrehten Film Yīgè dōu bùnéng shǎo („Not One Less“) thematisierte der chinesische Regisseur Zhang Yimou die chinesische Bildungsreform der 90er Jahre und die entstandene Kluft zwischen städtischen und ländlichen Milieus. Einer junge Lehrpraktikantin kommt während des Praktikums ein Schüler abhanden, der zum Geldverdienen in die Stadt fährt. Sie begibt sich ebenfalls, völlig unerfahren, in die Großstadt, um ihn zurückzuholen, denn ihr wurde eingeschärft, keines der Kinder zu verlieren. So ähnlich gestaltet sich Fernlehre heute. Der Film hat ein positives Ende. Die Fernlehre hoffentlich auch.
Hannes Galter