“Niemand soll es wissen” – und gerade deshalb müssen wir darüber reden!
Ein Weckruf im Jahr der Erwachsenenbildung: Mehr als 100.000 SteirerInnen haben Probleme mit Lesen und Schreiben. Das Bildungsnetzwerk hat mit Barbara Andree (ISOP GmbH) über Ursachen, Hürden und Chancen von Basisbildungsangeboten gesprochen.
„Wie kann es passieren, dass man in Österreich neun Jahre zur Schule geht, Deutsch als Erstsprache hat und nicht lesen und schreiben lernt?“ – Dieser Frage ging der ORF erst vor kurzem im Rahmen der Reportage „Niemand soll es wissen“ (Am Schauplatz) auf den Grund.
PIAAC-Studie: Bald aktualisierte Daten zum nationalen Basisbildungsbedarf
Rund eine Million in Österreich lebende Menschen können nicht sinnerfassend lesen – spätestens seit der PIAAC-Studie wurde auch das Ausmaß des Bedarfs wissenschaftlich nachgewiesen. Apropos PIAAC: Die Studie wird alle 10 Jahre durchgeführt, ab September 2022 startet die neue Erhebungsphase (siehe Statistik Austria). Wir können also in absehbarer Zeit mit aktualisierten Daten rechnen.
„Vertuschen ist oft schwieriger, als letztlich lesen zu lernen“ – Erfahrungen aus der Praxis
Geredet wird in breiten Teilen der Bevölkerung dennoch nicht darüber, weil die Angst vor Stigmatisierung zu groß ist. Barbara Andree, Projektleiterin im Bereich Basisbildung beim gemeinnützigen Beschäftigungsprojekt ISOP in Graz, berichtet: „Die Menschen verstecken ihr Problem. Getrauen sich oft auch nicht in einen der vielen Basisbildungskurse, wo sie ihre Defizite ausgleichen könnten, sondern entwickeln unterschiedlichste Strategien, um sich durch das Leben zu schlagen.“ Wobei: Ist die Hemmschwelle erst einmal überschritten, wird meist sehr schnell deutlich, mit wie viel höherer Lebensqualität die Fähigkeit sinnerfassend lesen zu können verbunden ist.
Negative Schulerfahrungen, familiäres Umfeld … die Ursachen sind vielfältig
Das Problem zieht sich quer durch alle Altersschichten und hat vielfältige Gründe. „Das kann an einem grundsätzlichen Desinteresse am Lernen in der Schule genauso liegen wie an LehrerInnen, bei denen sich SchülerInnen einfach nicht wohl gefühlt haben“, erklärt Barbara Andree. Häufig liege es aber auch am familiären Hintergrund. „Wenn Bildung in der Familie keine große Rolle spielt, Kinder nicht mit Büchern und Zeitungen aufwachsen, dann sind das schon einmal denkbar schlechte Grundvoraussetzungen.“ Dass es dennoch gelingt, die Grundschule abzuschließen, verwundert Andree nicht: „Eine Note sagt ja noch nicht wirklich viel über die tatsächlichen Kompetenzen aus.“
Wann kommen Menschen in Basisbildungskurse?
„Sie wollen etwa endlich ihre Mails lesen können. Sie wollen dem Enkerl vorlesen oder den Führerschein machen – wenn also die persönliche Not sehr groß wird. Oftmals hören sie aber auch von Freunden und Bekannten, dass es diese Kurse gibt und entschließen sich, zu uns zu kommen. Daher ist es so wichtig, dass sowohl das Thema als auch die Basisbildungsangebote verstärkt in die Öffentlichkeit getragen werden“, betont Andree.
Basisbildungskurse: Ganz anders als in der Schule lernen
Basisbildungskurse wurden in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen, um Basiskompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen, Alltagstechnologien) im Erwachsenenalter verbessern und auffrischen zu können. Anders als in der Schule werden die Lernpläne individuell gestaltet. Man lernt genau das, was man braucht. Die Teilnahme an Basisbildungskursen ist kostenlos und wird von Bund und/oder Land Steiermark gefördert.
Kerstin Slamanig, Geschäftsführerin des Bildungsnetzwerkes Steiermark, appelliert: „Unser aller Ziel muss es sein, dass Menschen mit Lese- und Schreibschwäche durch entsprechende Basisbildungsangebote unterstützt werden. Gerade im heurigen Jahr der Erwachsenenbildung muss auch in diesem so sensiblen und wichtigen Bereich verstärkt aufgezeigt werden, dass Bildung wirkt.“
Basisbildungsangebote in der Steiermark: https://erwachsenenbildung-steiermark.at/info/basisbildung-pflichtschulabschluss/
Beratungsangebote: Bildungsberatung Steiermark / ALFATELEFON (österreichweit)